- Tanja Vießmann-Schmell

- 8. Nov.
- 5 Min. Lesezeit
Selbstliebe als Medizin:
Wie radikale Selbstannahme Körper und Geist heilen kann
Wir sprechen oft über gesunde Ernährung, Bewegung und Schlaf, wenn es um Gesundheit geht.
Aber es gibt eine Kraft, die wir dabei oft vergessen – eine, die ebenso wichtig ist: Selbstliebe.
Selbstliebe, radikale Selbstannahme und Selbstmitgefühl sind nicht nur schöne Ideen für das Herz.Sie sind eine biologische Notwendigkeit.
Neue Erkenntnisse aus Neurowissenschaft, Epigenetik und ganzheitlicher Medizin zeigen: Wie wir mit uns selbst sprechen, wie wir über uns denken und fühlen, beeinflusst direkt unsere Hormone, unser Nervensystem, unsere Gene – und unsere Selbstheilungskräfte.
Was Selbstliebe wirklich bedeutet
Selbstliebe hat nichts mit Egoismus zu tun.
Es geht nicht darum, sich ständig im Mittelpunkt zu sehen oder sich nie zu kritisieren.
Es bedeutet vielmehr:Sich selbst mit der gleichen Freundlichkeit und Fürsorge zu begegnen,mit der man einem geliebten Menschen begegnen würde.
Radikale Selbstannahme heißt, dass du aufhörst, gegen dich selbst zu kämpfen.
Dass du lernst, dich so anzunehmen, wie du bist – mit allen Stärken, Schwächen, Fehlern und Narben.
Die Psychologin Dr. Kristin Neff, die international zum Thema Self-Compassion forscht, beschreibt Selbstmitgefühl als drei ineinander greifende Haltungen:
Selbstfreundlichkeit – liebevoll mit sich selbst umgehen statt hart zu verurteilen.
Gemeinsame Menschlichkeit – verstehen, dass Fehler Teil des Menschseins sind.
Achtsamkeit – Gefühle und Gedanken bemerken, ohne sich in ihnen zu verlieren.
Wenn wir uns so begegnen, entsteht innerer Frieden.Und dieser Frieden hat messbare körperliche Effekte.
Was Selbstkritik mit unserem Körper macht
Viele Menschen sind unbewusst in einem inneren Dauerkrieg mit sich selbst.
Sie treiben sich an, beschämen sich, vergleichen sich, zweifeln an ihrem Wert.
Dieser innere Dialog bleibt nicht ohne Folgen.
Unser Gehirn unterscheidet kaum, ob die Bedrohung von außen oder von innen kommt.Wenn wir uns also selbst kritisieren, reagiert das Stresszentrum im Gehirn – die Amygdala – genauso, als würden wir tatsächlich angegriffen.
Dann wird die Stressachse aktiviert:Hypothalamus → Hypophyse → Nebennierenrinde – und dort wird Cortisol ausgeschüttet.
Cortisol ist hilfreich, wenn wir fliehen oder kämpfen müssen.Aber wenn es dauerhaft hoch bleibt, stört es viele wichtige Prozesse:
Der Schlaf verschlechtert sich
Die Verdauung wird gehemmt
Das Immunsystem wird geschwächt
Entzündungen steigen an
Heilungsprozesse verlangsamen sich
Chronischer Selbsthass hält unseren Körper also buchstäblich im Überlebensmodus.
Langfristig kann das zu Erschöpfung, Verdauungsproblemen, Hauterkrankungen, depressiven Verstimmungen und anderen Beschwerden führen.
Was im Körper passiert, wenn du freundlich zu dir bist
Zum Glück funktioniert das auch in die andere Richtung.Wenn du dich liebevoll beruhigst, tief atmest, und dich selbst mitfühlend wahrnimmst, aktivierst du den sogenannten Parasympathikus – den Teil deines Nervensystems, der für Ruhe, Regeneration und Heilung zuständig ist.
In diesem Zustand produziert dein Körper eine ganze Reihe „heilsamer“ Botenstoffe:
Oxytocin, das „Bindungshormon“: Es beruhigt das Herz, stärkt das Immunsystem und verringert Entzündungen.
Serotonin, der „Wohlfühlstoff“: Es hebt die Stimmung, reguliert Schlaf und Appetit.
Endorphine, die natürlichen Schmerzmittel des Körpers: Sie erzeugen Leichtigkeit und Wohlbefinden.
Studien zeigen: Menschen mit mehr Selbstmitgefühl haben niedrigere Cortisolwerte und zeigen geringere Entzündungsreaktionen nach Stresssituationen (z. B. niedrigere IL-6-Werte, ein Entzündungsmarker im Blut).
Das bedeutet: Selbstliebe ist messbare Biochemie.
Neuroplastizität: Dein Gehirn lernt, wie du mit dir selbst sprichst
Das Gehirn ist kein fest verdrahtetes Organ.Es verändert sich ein Leben lang – je nachdem, welche Gedanken und Gefühle du wiederholst.
Diese Fähigkeit nennt man Neuroplastizität.
Wenn du dich also regelmäßig kritisierst, werden diese neuronalen Verbindungen immer stärker.Selbstzweifel werden zur Gewohnheit.
Aber genauso kannst du neue Bahnen formen – indem du bewusst Selbstmitgefühl übst.
Jedes Mal, wenn du freundlich zu dir sprichst, wenn du dich selbst beruhigst oder dir verzeihst, verstärkst du die neuronalen Netzwerke für Sicherheit, Vertrauen und Freude.
Man könnte sagen:
Selbstliebe trainiert dein Gehirn, sich sicher zu fühlen.
Das Nervensystem: Wenn Heilung endlich möglich wird
Unser Nervensystem kennt im Grunde zwei Hauptzustände:
Kampf oder Flucht (Sympathikus) – wir sind angespannt, wachsam, bereit.
Ruhe und Regeneration (Parasympathikus) – wir können verdauen, schlafen, heilen.
Selbstkritik aktiviert den ersten Zustand.
Selbstmitgefühl den zweiten.
Wenn du lernst, dich innerlich zu beruhigen,aktivierst du den sogenannten Vagusnerv –eine Art Hauptleitung, die Herz, Lunge, Verdauung und viele Organe verbindet.
Ein aktiver Vagus bedeutet: Dein Körper schaltet in den Heilungsmodus.
Langsames Atmen, sanfte Berührung, Meditation oder liebevolle Selbstgespräche –all das stimuliert den Vagusnerv und stärkt die Regenerationskraft deines Körpers.
Epigenetik: Wie Gedanken unsere Gene beeinflussen
Lange Zeit dachte man:
Unsere Gene bestimmen, wer wir sind – und was in unserem Körper passiert.
Heute wissen wir:Die Gene sind wie ein Klavier –und unsere Umwelt, unsere Ernährung, unsere Gedanken und Gefühle sind die Hände, die darauf spielen.
Diese Wissenschaft nennt sich Epigenetik.
Epigenetik erforscht, wie äußere und innere Einflüsse Gene an- oder abschalten können.
Zum Beispiel zeigen Studien, dass Meditation und Achtsamkeit innerhalb weniger Stunden die Aktivität von Genen verändern, die Entzündungen fördern oder hemmen.
Der Zellbiologe Bruce Lipton brachte es einmal so auf den Punkt:
„Unsere Wahrnehmung steuert unsere Biologie.“
Wenn wir lernen, uns selbst mit Liebe zu betrachten, sendet das dem Körper Signale von Sicherheit –und die Gene reagieren darauf.
Die Forschung von Kelly Turner:
Wenn Heilung möglich wird
Die amerikanische Forscherin Dr. Kelly A. Turner hat Menschen untersucht,die von schweren Krankheiten – darunter Krebs – unerwartet genesen sind.
Sie nannte diese Fälle „Radical Remission“.
In ihrer Arbeit fand sie neun gemeinsame Faktoren, die bei fast allen Betroffenen vorkamen.Neben gesunder Ernährung, Bewegung und spiritueller Praxiswaren drei Faktoren besonders stark:
Selbstermächtigung – die Entscheidung, selbst aktiv zu werden.
Emotionale Reinigung – Stress loslassen, alte Wunden heilen.
Tiefe Selbstliebe – die Überzeugung: Ich bin es wert, gesund zu sein.
Kelly Turner schreibt, dass diese Haltung möglicherweisedie körpereigenen Heilungsmechanismen aktiviert –unter anderem über Hormone, Nerven und das Immunsystem.
Ihre Forschung ergänzt, was moderne Neurowissenschaft und Epigenetik längst bestätigen: Heilung beginnt mit der inneren Haltung.
Kleine Übungen für mehr Selbstliebe im Alltag
Du brauchst keine großen Rituale, um anzufangen. Hier sind zwei einfache Übungen, die wissenschaftlich erwiesen dein Nervensystem beruhigen und Selbstmitgefühl fördern:
Drei-Minuten-Selbstmitgefühls-Atem
Setze dich bequem hin, schließe die Augen.
Atme tief ein – und langsam wieder aus.
Lege eine Hand auf dein Herz.Sag leise zu dir:
„Das ist gerade schwierig.
Und es ist okay, dass ich das fühle.
Möge ich freundlich mit mir sein.“
Diese kurze Übung aktiviert den Parasympathikus und senkt nachweislich Stresshormone im Blut.
Der Kompass der Selbstannahme und Selbstfürsorge
Frage dich jeden Morgen:
„Was brauche ich heute, um gut für mich zu sorgen?“
Vielleicht ist es Ruhe, Bewegung oder ein klares Nein.
Schreib es auf.
Dann lege kurz eine Hand auf deinen Bauch und eine aufs Herz.
Spüre, dass du da bist – lebendig, genug, ganz.
Fazit: Selbstliebe ist Medizin
Selbstliebe ist kein Luxus, kein Modewort und keine Schwäche.
Sie ist eine Form von biologischer Intelligenz.Sie beruhigt dein Nervensystem, stärkt dein Immunsystem, verbessert Schlaf, Verdauung und Regeneration –und sie kann sogar deine Gene positiv beeinflussen.
Wenn du dich selbst annimmst, hörst du auf, dein eigener Feind zu sein.Dein Körper spürt das –und beginnt, zu heilen.
Wie Bruce Lipton sagt:
„Wenn wir lernen, unsere Gedanken zu verändern, verändern wir unsere Biologie.“
Selbstliebe ist also keine Flucht vor der Realität –sie ist der Weg zurück zu dir.
Und vielleicht das stärkste Heilmittel, das wir besitzen.
Quellen & Inspiration
Dr. Kristin Neff: Self-Compassion: The Proven Power of Being Kind to Yourself
Dr. Bruce Lipton: The Biology of Belief
Dr. Kelly A. Turner: Radical Remission – Surviving Cancer Against All Odds
Breines et al. (2013): Self-compassion and reduced inflammatory response to stress, Brain, Behavior, and Immunity
Kaliman et al. (2014): Mindfulness practice leads to epigenetic changes, Psychoneuroendocrinology
Cohen et al. (2012): Chronic stress and glucocorticoid receptor resistance, PNAS




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